Die Löwen brüllen wieder!
Die Fußballer des TSV 1880 Wasserburg lagen am Boden. Schlechte Strukturen, kaum Nachwuchsarbeit, fehlende Sponsoren und Spieler, die eigentlich keiner haben will. Innerhalb von nur fünf Spielzeiten wurden die Innstädter von der Bezirksoberliga in die A-Klasse durchgereicht. Doch noch schneller ging es wieder bergauf. Vier Aufstiege in Folge, in der kommenden Saison spielt Wasserburg in der Landesliga – so hoch wie nie zuvor. Die Erfolgsgeschichte dreier Brüder.
Es läuft bereits die Nachspielzeit. Ein letztes Aufbäumen, eine letzte Ecke. 2:2 steht es im Bezirksligaspiel zwischen dem TSV 1880 Wasserburg und dem VfB Forstinning. Wasserburgs Kapitän Dominik Haas peitscht sein Team noch einmal nach vorne. Der Ball, getreten von Matthias Haas, segelt leicht angeschnitten in den VfB-Strafraum und über den Fuß eines Forstinninger Spielers ins Netz. Eigentor, 3:2 für Wasserburg – der Siegtreffer. Und gleichzeitig das Tor, das die Meisterschaft und den vierten Aufstieg in Serie für den TSV Wasserburg endgültig besiegelt. Am 24. Spieltag der laufenden Spielzeit.
Als Leonhard „Leo“ Haas, Trainer der ersten Herrenmannschaft des TSV 1880 Wasserburg, von dieser verrückten Schlussphase erzählt, sitzt er in einem Café in der Wasserburger Innenstadt. Der 36-Jährige trägt Jeans und ein weißes T-Shirt, unter dessen Ärmeln die Ansätze seiner Oberarm-Tätowierungen hervorblitzen. Hier, in Wasserburg, ist Leo daheim. Hier ist er aufgewachsen. Hier fühlt er sich wohl.
Lange war Leo Haas nicht in seiner Heimat. Schon früh ist er losgezogen, um sich den Traum zu erfüllen, den so viele Jugendliche träumen. Den Traum vom Leben als Fußballprofi. Leo hat es geschafft. Jugend beim TSV 1860 München und FC Bayern, Stammspieler beim FC Augsburg, bei der SpVgg Greuther Fürth, beim FC Ingolstadt, bei Hansa Rostock. WM-Teilnahme mit der U17-Nationalmannschaft, 2. Bundesliga, 3. Liga, DFB-Pokal. Im März 2007 erzielt er in der Allianz Arena vor 69.000 Zuschauern für Augsburg den 1:0-Führungstreffer gegen die Münchner Löwen. Ausgelassener Jubel. Die ganz große Bühne.
Profifußball im Nirgendwo
Doch sein Zuhause bleibt Wasserburg. „Als Profi bist du immer unterwegs, du bist irgendwo. Vielleicht mal zwei, drei oder vier Jahre am selben Ort. Aber so richtig heimisch ist es nirgends“, sagt Haas. Das ist die Kehrseite des Geschäfts, das zwar Glamour verspricht, aber oft nichts weiter ist als harter Beton. Im Sommer 2014 ist die Reise vorbei. Verletzungen prägen die Fußballer-Karriere des Leo Haas. Mit 32 macht der Körper nicht mehr mit. „Das zu erkennen und mit dem Profifußball abzuschließen, war nicht ganz einfach“, erinnert er sich. „Rückblickend hat die Freude, wieder in die Heimat zurückzukehren, aber tatsächlich überwogen.“
Für einen Außenstehenden ist schwer zu glauben. Doch wenn Leo Haas über seine Vergangenheit als Profifußballer spricht, schwingt kaum Wehmut mit. Profifußball ist Business, knallhart, und zeitlich begrenzt. Und für Leo Haas nicht alles im Leben. Er ist ein Familienmensch. Heimatverbunden. „Es war schon immer der Plan, zurückzukommen“, sagt Haas. Zurück nach Wasserburg. Oder zumindest zurück in die Region. Dorthin, wo er sich wohlfühlt. Wo seine Familie ist. Seine Eltern. Seine zwei Brüder.
Drei Brüder und der Fußball
Leo ist der älteste der drei Haas-Geschwister. Und, was den Fußball betrifft, wohl der talentierteste. Dominik und Matthias haben es auch versucht. Auch sie wollten Profi werden. Dominik, 34, gewann 2001 an der Seite von Philipp Lahm die Deutsche A-Junioren-Meisterschaft. Später stand er in der 2. Bundesliga im Kader der SpVgg Unterhaching. Heute unterrichtet er als Lehrer an einer Realschule. In Haag, gut 15 Kilometer von seinem Wohnort Wasserburg entfernt. Matthias feierte 2007 mit dem FC Bayern die Deutsche B-Junioren-Meisterschaft und nahm kurz darauf gemeinsam mit Toni Kroos an der U17-WM in Südkorea teil. Später versuchte er, beim Hamburger SV und FC Ingolstadt den Sprung in den Profifußball zu schaffen. Ohne Erfolg. Inzwischen hat Matthias, 28, Trikot, Hose und Stutzen gegen den Business-Anzug getauscht. Er ist Bankkaufmann. In Wasserburg.
Die drei Brüder verbindet vieles. Ihre Herkunft, aber vor allem ihre Liebe zum Fußball. Und der gehen sie nun gemeinsam nach. Beim TSV 1880 Wasserburg. Leo als Trainer, Dominik und Matthias auf dem Feld. Als verlängerter Arm quasi. Dominik und Matthias laufen bereits seit 2014 für die Wasserburger Löwen auf. Seit dem Jahr, in dem der Verein in die A-Klasse abgestürzt war. Leo gönnt sich nach dem Karriereende ein Jahr Pause, schnürt nach dem Aufstieg in die Kreisklasse aber kurzzeitig die Fußballschuhe für den TSV und wird bald darauf Trainer. Der Startschuss für ein Familienprojekt.
Mit Wir-Gefühl zum Erfolg
Für die Haas-Brüder ist es eine Herzensangelegenheit, den TSV 1880 Wasserburg nach den turbulenten Zeiten wieder auf Vordermann zu bringen. Und das weit über die Grenzen des Fußballfeldes hinaus. Neben einigen neuen Spielern gibt es nun feste und gewachsene Strukturen, ein neues Sportheim, ein Wir-Gefühl und, vor allem, wieder sportlichen Erfolg. Die Fußballer des TSV sind in Wasserburg wieder eine Institution. Zum Derby gegen die SG Reichertsheim/Ramsau kommen fast 1000 Zuschauer an den Sportplatz in der Altstadt. Nach dem 9:0-Heimsieg gegen den ASV Au stattet Bürgermeister Michael Kölbl dem Team einen Besuch in der Kabine ab.
Nur vier Jahre zuvor war der Klub in der öffentlichen Wahrnehmung im Grunde nicht mehr existent. Der zwischenzeitliche Verfall der Fußballabteilung des TSV 1880 Wasserburg hat viele Gründe. Fehlende Strukturen, kaum Nachwuchsarbeit, schlechte Infrastruktur, wegfallende Sponsoren und Spieler, die nur des Geldes wegen in die Innstadt wechselten. „Im Umkreis waren viele nicht gut auf die Wasserburger Fußballer zu sprechen. Wir hatten nicht nur ein sportliches Problem, sondern auch mit unserem Image zu kämpfen. Das habe ich sogar aus der Ferne mitbekommen“, erinnert sich Leo Haas.
Kritik und Imagewandel
Der Wasserburger Neuanfang mit den Haas-Brüdern ist in der Region umstritten. Ein ehemaliger Profi als Trainer, dazu Spieler, die schon in weit höheren Sphären gegen den Ball getreten haben. Hannes Hain zum Beispiel, oder Michael Pointvogel und Niki Wiedmann, die allesamt dem Lockruf der Haas-Brüder folgen. Dominik und Matthias sowieso. Und das in der A-Klasse. So könne es ja jeder schaffen, heißt es. „Klar heben diese Leute die Qualität in der Mannschaft, das ist aber noch lange keine Garantie für Erfolg“, sagt Leo Haas, der aus seiner Profizeit auch eine gewisse Härte mitgebracht hat. „Kritik von außen interessiert mich aber sowieso nicht. Da stehe ich drüber!“
Der Erfolg kommt schneller als gedacht. Vier Aufstiege in Folge, dazu eine Dominanz in der Liga, die selbst einen FC Bayern neidisch werden lässt. In den vergangenen vier Spielzeiten haben die Löwen gerade einmal acht Spiele verloren. Es läuft in Wasserburg. In vielerlei Hinsicht. Denn der Erfolg lässt auch die Kritiker verstummen. Leo Haas: „Es hat einen extremen Imagewandel gegeben. Viele haben gemerkt, dass das, was wir hier machen, mit Plan ist. Nachhaltig. Wir erhalten inzwischen sogar Zuspruch von den umliegenden Vereinen, die gerne zu unseren Spielen kommen. Unsere Arbeit wird honoriert.“
Der Schlüsselmoment
Und das hat vor allem einen Grund: Es macht Spaß, den Wasserburgern beim Fußballspielen zuzusehen. Jeder grätscht, köpft, schießt und rennt für den anderen. Die Mannschaft ist eine Einheit. Und gibt sich niemals auf. Exemplarisch dafür steht der 7. Spieltag der aktuellen Saison. 25. August 2017, Freitagabend, Flutlichtatmosphäre. Zu Gast in der Altstadt ist der TSV Dorfen. Es läuft gar nichts zusammen. Reklamieren. Fluchen. Abwinken. Zur Halbzeit liegen die Löwen mit 0:3 zurück. Die Siegesserie von sechs Erfolgen zu Beginn der Spielzeit scheint zu reißen.
Doch die zweiten 45 Minuten stellen die Partie auf den Kopf. Wasserburg drückt aufs Gaspedal, wirft alles nach vorne und gewinnt die Partie noch 5:3. Zweimal trifft Alexander Meltl, ein Eigengewächs, zweimal Hamit Sengül, den Schlusspunkt setzt Andrija Bosnjak. „Wenn man einen 0:3-Rückstand dreht, gehört auch ein bisschen Glück dazu“, sagt Leo Haas zum Spiel, das er als Schlüsselmoment auf dem Weg zum abermaligen Aufstieg bezeichnet: „Fakt ist aber auch, dass die Grundeinstellung passen muss!“
Identifikation via Facebook
Mit Grundeinstellung meint Haas, der inzwischen hauptberuflich als Sport- und Fitnesskaufmann tätig ist, das Team-Klima, die Identifikation. Einer für alle, alle für einen. Innerhalb der Mannschaft, innerhalb der Fußballabteilung, innerhalb des Vereins. „Der Charakter muss stimmen, erst dann kommt das Fußballerische. Nur so kann es funktionieren. Und dann kommt auch der Erfolg“, sagt Leo Haas. So wählt er auch potenzielle Spieler aus. So wie Maximilian Hainzl, der vor der Saison vom Nachbarklub SV Amerang zu den Löwen gewechselt ist. „Er war ein halbes Jahr da und schon war er auf seinem Facebook-Profilbild mit unserem Trikot zu sehen. Das ist Identifikation.“ Das kann man so sehen.
In der Saison 2018/19 spielt der TSV 1880 Wasserburg in der Landesliga. Dort will sich die Mannschaft etablieren. „Für eine Stadt wie Wasserburg ist die Landesliga schon realistisch, davon bin ich überzeugt“, sagt Leo Haas. Die Voraussetzungen dafür sind jedoch nur bedingt geschaffen. Stichwort Nachhaltigkeit. Zwar stellt der Verein inzwischen in allen Jugend-Altersklassen wieder eine Mannschaft und die Vereinsstrukturen sind gewachsen, die Sportplatzproblematik ist aber noch nicht gelöst. Ein Kunstrasen soll her, im Optimalfall ein komplett neuer Standort. „Mittelfristig muss da etwas passieren. Da brauchen wir die Unterstützung der Stadt.“ Eine weitere Baustelle: Einige Leistungsträger sind bereits im fortgeschrittenen Fußballeralter. Deshalb gilt es nun, „der Mannschaft für die kommenden Jahre ein Gesicht zu geben“, sagt Leo Haas. Das ist seine Aufgabe.
Haas: „Wollen den Weg weitergehen“
Eines dieser Gesichter wird Leo Haas selbst sein, er hat seinen Vertrag beim TSV Wasserburg erst kürzlich verlängert. Und das, obwohl der Regionalligist TSV 1860 Rosenheim bei ihm angeklopft hat. „Sportlich wäre das sehr reizvoll gewesen. Schließlich ist Rosenheim die höchstspielende Mannschaft in der Region. Aber wir haben hier in den letzten Jahren viel aufgebaut und sind mit unserem Weg noch nicht am Ende.“ Wie lange er diesen Weg noch mitgeht, ist unklar. Im Sommer steht die A-Lizenz an, später vielleicht sogar der Fußball-Lehrer. Die Basis für eine Trainer-Laufbahn im professionellen Fußball. Doch das ist Zukunftsmusik. „Wohin der Weg geht? Keine Ahnung! Jetzt zählt erst einmal Wasserburg!“
Rohrdorf, Ortsteil Achenmühle, knapp 30 Kilometer südlich von Wasserburg. Hier ist Leo Haas mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen heimisch geworden. Tritt er auf die Terrasse, kann er die Berge sehen.
Sebastian Dirschl, Bayerischer Fußball Verband